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G 1/21 – Anhörungen als Videokonferenz auch ohne Einwilligung der Parteien?

Mit ihrer Vorlagefrage an die Große Beschwerdekammer vom 12. März 2021 hatte die technische Beschwerdekammer in dem Fall T 1807/15 die Frage aufgeworfen, ob das Abhalten von mündlichen Verhandlungen als Videokonferenz auch ohne die Einwilligung aller Beteiligten mit dem Recht auf mündliche Verhandlungen gemäß Artikel 116(1) EPÜ vereinbar ist.

Fast 50 Amicus Curiae-Eingaben sowie ein Statement des EPA-Präsidenten, der deutlich für Videokonferenzen argumentiert hat, untermauern die Bedeutung dieser Vorlagefrage. Die Relevanz basiert nicht nur darauf, dass das EPA vor dem Hintergrund der Covid-19-bedingten Kontaktbeschränkungen zuletzt zumindest temporär Videokonferenzen als den Standard für mündliche Verhandlungen etabliert hatte (siehe den News-Artikel vom 8. März 2021). Zudem hat das EPA nämlich im Dezember 2020 eine Gesetzesänderung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern zu diesem Thema entworfen, welche mittlerweile seit dem 1. April 2021 in Kraft ist. In Artikel 15a, Absatz 1 heißt es darin:

„Die Kammer kann beschließen, die mündliche Verhandlung gemäß Artikel 116 EPÜ auf Antrag eines Beteiligten oder von Amts wegen als Videokonferenz durchzuführen, wenn sie dies für zweckmäßig erachtet.“

Demnach können mündliche Verhandlungen als Videokonferenz auch unabhängig von verhängten Kontaktbeschränkungen und gegen den Willen der Parteien durchgeführt werden.

Nach der – als Videokonferenz durchgeführten – mündlichen Verhandlung hat die große Beschwerdekammer die vorgelegte Frage darauf eingeschränkt, dass sie sich nur noch auf mündliche Verhandlungen vor den Beschwerdekammern sowie auf Situationen einer allgemeinen Notfalllage bezieht. In der Entscheidung vom 17.Juli 2021 wurde schließlich festgehalten, dass während einer allgemeinen Notfalllage, welche die Möglichkeiten der Beteiligten beeinträchtigt, persönlich an einer mündlichen Verhandlung in den Räumlichkeiten des EPA teilzunehmen, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor den Beschwerdekammern in Form einer Videokonferenz mit dem EPÜ vereinbar ist, auch wenn nicht alle Verfahrensbeteiligten ihre Zustimmung zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung in Form einer Videokonferenz gegeben haben.

Diese Entscheidung ließ freilich die Frage offen, ob auch abseits von derartigen Notsituationen mündliche Verhandlungen generell als Videokonferenz durchgeführt werden dürfen. Die Begründung der großen Beschwerdekammer zu dem Fall G 1/21 wurde daher mit Spannung erwartet.

Die Entscheidungsbegründung vom 28. Oktober 2021 gibt nun zumindest einige Hinweise bezüglich der Frage, inwiefern Videokonferenzen generell eine geeignete Variante von mündlichen Verhandlungen sein können. Demnach wurde konstatiert, dass eine mündliche Verhandlung in Form einer Videokonferenz eine mündliche Verhandlung im Sinne des Art. 116 EPÜ ist, welche in der Regel ausreichend ist, um die Grundsätze der Fairness des Verfahrens und des rechtlichen Gehörs zu wahren. Eine Videokonferenz sei jedoch suboptimal, weshalb persönliche Anhörungen nach wie vor die Standardoption sein sollten. Diese Option könne den Parteien nur aus sachlichen Gründen verweigert werden, wobei die Entscheidung insbesondere nicht von administrativen Aspekten, wie der Verfügbarkeit von Konferenzräumen oder der Verbesserung der Effizienz, beeinflusst werden sollte.

Die Entscheidungsbegründung gibt beteiligten Parteien also zumindest Argumente in die Hand, weshalb Videokonferenzen für mündliche Verhandlungen nicht ohne guten Grund gegen den Willen der Parteien durchgeführt werden sollten. Es bleibt jedoch abzuwarten, wie sich diese Entscheidung auf die zukünftige Praxis nach der Covid19-Pandemie auswirkt.

Dr. Matthias Vogt / Dr. Reta Schinkel